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Transformation zu mehr Nachhaltigkeit in der Hochschullehre

Präambel

Wir sind Vertreter:innen unterschiedlicher Disziplinen und aller Statusgruppen deutscher Hochschulen und Teilnehmende am Jahresprogramm 2022/2023 „Hochschullehre im Kontext von Nachhaltigkeit" der Stiftung Innovation in der Hochschullehre (StIL). Wir fühlen uns dem Konzept Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) verpflichtet. In diesem Sinne fordern wir, das Hochschulsystem nachhaltig zu transformieren, um die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen bewältigen zu können. Um dies erfolgreich zu verändern und zu gestalten, muss eine kritische Masse von Akteur:innen diese Veränderung einfordern, gestalten, mittragen und kooperativ umsetzen.

Hochschulen tragen die Verantwortung, gesellschaftliche Transformation wissenschaftlich, kritisch, konstruktiv und progressiv zu unterstützen und zu gestalten. Die im Handlungsfeld Lehre Tätigen haben damit die Chance, Studierende auf Transformationsprozesse einer Nachhaltigen Entwicklung vorzubereiten. Im Fokus steht dabei die Förderung zukunftsorientierter Kompetenzen im Verständnis von BNE.

Als Studierende, wissenschaftlich Mitarbeitende, Professor:innen, Lehrbeauftragte, Hochschuldidaktiker:innen, Verwaltungsmitarbeitende, Hochschul-, Fakultäts- und Studiengangsleitungen haben wir vielfältige Perspektiven auf Hochschullehre. Lehre im Kontext von Nachhaltigkeit begreifen wir im Sinne eines Whole Institution Approach als ganzheitlichen Bildungsauftrag aller Akteursgruppen.

Mit dieser Erklärung geben wir eine Richtung vor, die für die strategischen, inhaltlichen und vor allem strukturellen Änderungen an Hochschulen wegweisend ist. Ziel muss es sein, nicht nur das Hochschulsystem zu transformieren, sondern darüber hinaus in die Gesellschaft hineinzuwirken.

1. Dringlichkeit nachhaltiger Entwicklung in der Hochschullehre

1.1. Vom Ziel der Nachhaltigkeit sind wir als Gesellschaft weit entfernt. Daher muss das deutsche Hochschulsystem einen vehementeren Beitrag zum Prozess Nachhaltiger Entwicklung leisten.

1.2 Nachhaltige Transformation ist in Wissenschaft und Forschung ebenso wie in Gesellschaft und Politik ein zentrales Konzept und hat einen Wert auf lokaler, nationaler sowie auf internationaler Ebene. Sie beschreibt den Prozess, der auf einen Idealzustand menschlicher Zivilisation abzielt, in dem gleichzeitig die ökologische Tragfähigkeit, die soziale Gerechtigkeit und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gewährleistet werden.

1.3. Ökologische Ressourcen werden stärker beansprucht als diese sich regenerieren können. Einerseits herrschen ungerechte Strukturen und Defizite, andererseits führen falsche Handlungsanreize zu nicht-nachhaltigen Entscheidungen und Entwicklungen.

1.4. Neben dem Klimawandel weisen mehrere Krisen auf Überschreitungen der ökologischen Grenzen hin: Bei Diversitäts- und Artenschwund, Landnutzung, lebensnotwendigen Stoffkreisläufen und der unkontrollierten Verbreitung neuer Substanzen werden die planetaren Grenzen dauerhaft überschritten. Der irreversible Verlust unserer bisherigen Lebensgrundlagen betrifft alle Teilbereiche der Zivilisation und löst akuten Transformationsdruck aus. Das Wissen um langfristige Kopplungen, komplexe Auswirkungen und Kipppunkte in vielen Systemen belegt, dass die Entscheidungs- und Handlungsspielräume begrenzt und die angerichteten Schäden irreparabel sind.

1.5. Auch die sozialen Grenzen des sicheren und gerechten Handlungsraums werden lokal und global für viele Menschen nicht eingehalten. Die Defizite manifestieren sich in Form von Mangel und Versagen beim Sichern der Menschenrechte und ungerechter Verteilung von Gütern. Ohne globale und intergenerationelle Gerechtigkeit wird Nachhaltigkeit unerreicht bleiben.

1.6. Die wissenschaftlichen Aspekte von Nachhaltigkeit haben sich in den letzten 50 Jahren in einem akademischen Diskurs richtungsweisend etabliert. Dieser führt Erkenntnisse aus allen Disziplinen zusammen und sucht im Austausch mit allen gesellschaftlichen Akteuren nach Pfaden nachhaltiger Entwicklung. Damit bietet sich eine fundierte theoretische Grundlage für anwendungsorientiertes Handeln.

2. Die Transformation der Hochschullehre gestalten

2.1. Studienangebote sollten die Komplexität des Themas angemessen abbilden und den Beitrag der jeweiligen Fachgebiete zur Problemlösung reflektieren. Über die Dimensionen der Nachhaltigkeit des Drei-Säulen-Konzepts (u.a. im Brundtlandbericht, 1987) hinaus, zählen die von den Vereinten Nationen beschriebenen Transformationsfelder und 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung, die im Donut-Modell skizzierten sozialen und planetaren Grenzen sowie die Erklärungen von Scientists for Future Deutschland, DG HochN und UniNEtZ. Eine einseitige Orientierung, beispielsweise allein auf technologische Innovationen hin, kann die Herausforderungen nicht bewältigen. Der Anspruch von Hochschulbildung muss sich heute mehr denn je auch auf die Persönlichkeits- und Wertebildung erstrecken.

2.2. Alle Angehörigen der Hochschulen, das heißt Studierende, Dozierende, das wissenschaftliche Personal, Mitarbeitende im wissenschaftsunterstützenden Bereich und in der Verwaltung sowie die Hochschulleitungen, müssen Verantwortung für den Umbau der Lehre übernehmen. Das kann nur gelingen, wenn allen Akteur:innen die dazu notwendigen Handlungsspielräume eingeräumt werden und sie bei der aktiven Nutzung dieser Spielräume unterstützt werden.

2.3. Nachhaltigkeit und Nachhaltige Entwicklung als Lehrinhalte sowie der Erwerb von Nachhaltigkeitskompetenzen als Qualifikationsziele müssen in geeigneter Form Eingang in alle Studien- und Weiterbildungsangebote der Hochschulen finden. Dazu können je nach fachlichem Hintergrund Zusatzangebote und Zertifikatsprogramme, vollständige Studiengänge oder Schwerpunkte, spezifische Module oder Inhalte einzelner Lehrveranstaltungen zum Themenfeld Nachhaltigkeit zählen.

2.4. Da kompetenz-, zukunfts- und wertorientierte Bildung noch nicht flächendeckend im Hochschulsystem umgesetzt wird, sind entsprechende Transformationen notwendig. Alle im Handlungsfeld Lehre Tätigen benötigen die finanziellen, zeitlichen, räumlichen, vertraglichen und ideellen Ressourcen. Dies schließt die grundlegende Qualifizierung, Handlungsempfehlungen und geeignete Unterstützungsstrukturen ein. Die Professionalisierung der Arbeit für Nachhaltige Entwicklung erfordert nicht nur die Einrichtung einschlägiger Professuren, sondern die breite Sensibilisierung und fachliche wie didaktische Weiterqualifizierung von Lehrenden aller Fächer.

2.5. Da die drängenden Fragen unserer Zeit nicht aus der Perspektive einzelner Disziplinen zu lösen sind, sollten Inter- und Transdisziplinarität strukturell gefördert werden, beispielsweise durch Anreizsysteme für die Durchführung von inter- und transdisziplinären Lehrveranstaltungen und die Anrechnung des Aufwandes in einem angemessenen Umfang. Dazu zählen auch die Förderung und Anerkennung der Zusammenarbeit zwischen Studierenden unterschiedlicher Disziplinen und ihrer erbrachten Leistungen.

2.6. Studierende sind stärker als bisher an der Weiterentwicklung der Hochschullehre zu beteiligen, weil Nachhaltigkeit eine gleichwertige Berücksichtigung aller Interessen fordert. Studierende bringen sich in die Umgestaltung der Lehre und des Lernorts Hochschule ein. Sie werden so in die Lage versetzt, nicht nur Lernende zu sein, sondern aktiv und kompetent die Transformation im Hochschulsystem und den gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten.

3. Anforderungen an die Rahmenbedingungen

3.1. Die Hochschulleitungen stehen zusammen mit den Landesregierungen in der Verantwortung, für Lehrende und Studierende die Bedingungen für Lehre im Kontext Nachhaltiger Entwicklung zu schaffen. Dazu gehören Räume und deren Einrichtung, die Interaktion, Kooperation und Umsetzung der erworbenen Kompetenzen ermöglichen, sowie die technische Infrastruktur. Entsprechende Investitionen haben Priorität. Beispielsweise in Reallabore und Maker Spaces inklusive personeller Ausstattung für interdisziplinäre Lehre. Verantwortliche für BNE-orientierte Lehre sind auf allen Ebenen der Hochschule zu bestimmen. Ansprechpersonen zur Vernetzung innerhalb und zwischen Hochschulen sind zu bestimmen und entsprechend auszustatten.

3.2. Alle Lehrenden sollen sich für aktuelle Diskurse zu Nachhaltiger Entwicklung und BNE interessieren, um Anknüpfungspunkte für ihre Lehre zu erkennen. Ihr Einsatz für BNE-orientierte Lehre ist von Vorgesetzten und Leitungen an Hochschulen anzuerkennen und entsprechende Freiräume sind aufzutun. Lehrende sind bei der Curriculumsentwicklung und der Umsetzung innovativer Lehrkonzepte zu unterstützen.

3.3. Jenseits der gesetzlich geregelten Beteiligung in der akademischen Selbstverwaltung sind alle Hochschulen aufgerufen, Studierenden Freiräume und Unterstützung bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen einzuräumen und sie umfassend in die Gestaltung der Hochschulen als Räume für Nachhaltige Entwicklung einzubinden.

3.4. Die Gestaltung der Third Mission (Transfer, Kooperation, Kommunikation und Weiterbildung) ist neben Lehre und Forschung im Kontext Nachhaltiger Entwicklung ein gleichwertiges Ziel. Studierende, Lehrende und Hochschulleitungen suchen den Kontakt zu Nachhaltigkeitsakteur:innen aus anderen Bildungseinrichtungen und Systemen, um neue Impulse für Lehre im Kontext Nachhaltiger Entwicklung zu erhalten.

3.5. Wissenschaftsunterstützende Maßnahmen für Lehre im Kontext Nachhaltiger Entwicklung sind auszuschreiben und mit ausreichenden Ressourcen auszustatten.

3.6. Die Ergebnisse von Lehrforschungsprojekten zu Nachhaltigkeit und BNE müssen über vielfältige Kanäle nach innen und außen an die Öffentlichkeit kommuniziert werden.

3.7. Partnerschaftliche Kooperationen und Austausch mit Lehrenden an anderen Hochschulen im In- und Ausland sollen stärker gefördert werden, damit der Diskurs um eine globale Nachhaltigkeit gerecht gestaltet wird und Erfahrungen mit BNE-orientierter Lehre zielorientiert genutzt werden.

3.8. Die Umgestaltung der Lehre im Kontext der Nachhaltigen Entwicklung darf nicht in Leitbildern und Strategiepapieren verschwinden. Sie muss in Zielen und Maßnahmen konkretisiert und konsequent umgesetzt werden. Zur Evaluation, Messung und Überprüfung sind Indikatoren und Instrumente zu entwickeln. Ein Qualitätsmanagementsystem, das auf die Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet ist, unterstützt die Weiterentwicklung der Lehre systematisch. Systemakkreditierte Hochschulen sind in der Lage, ihre Qualitätssicherungsverfahren entsprechend anzupassen. Im Rahmen der eigenen Akkreditierungsverfahren erfolgt dann eine Überprüfung der Qualitätsziele, die in der Regel zu weiteren Entwicklungsimpulsen der Lehre führen.

3.9. Die Entwicklungen und Fortschritte in allen Handlungsfeldern der Hochschulen sollen regelmäßig dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht werden.

4. Fazit

Unsere Hochschulen stehen vor der Herausforderung, eine nachhaltige, insbesondere sozial- und klimagerechte, Zukunft mitzugestalten. Dafür brauchen wir nicht nur Wissen, sondern auch Kompetenzen, Haltungen und Werte, die uns befähigen, verantwortungsvoll zu handeln und Veränderungen anzustoßen. Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Klimagerechtigkeit bieten uns die Möglichkeit, systemische Zusammenhänge zu verstehen, kritisch zu reflektieren und partizipativ zu gestalten. Wir alle sind gefragt, unsere Handlungsspielräume zu nutzen und uns aktiv für eine nachhaltige Transformation unserer Hochschulen einzusetzen. Es reicht nicht aus, sich auf symbolische Maßnahmen zu beschränken oder abzuwarten, bis andere handeln. Wir müssen jetzt handeln, um den ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Damit wir aber handeln können, müssen die systemischen Rahmenbedingungen dies auch ermöglichen.

Unterzeichner:innen

Gruppenbild

Hier Ist eine Liste der Unterzeichner:innen und ihrer Afiiliationen zu finden.

Weitere Themen, die aktuell diskutiert werden1:

Manche von uns fordern studentische Vizepräsident:innen an jeder Hochschule.

Manche von uns fordern eine verpflichtende Weiterbildung der Lehrenden, die ihnen ein komplexes und kritisches Verständnis von Nachhaltigkeit vermittelt und sie befähigt, transdisziplinäre und transformative Lehrformate zu gestalten.

Manche von uns fordern anzuerkennen, dass die zentrale These führender Nachhaltigkeitsstrategien -- die Machbarkeit einer ausreichend schnellen absoluten Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Naturzerstörung im Sinne des sog. „grünen Wachstums" -- bislang weder empirisch nachgewiesen noch überzeugend theoretisch begründet worden ist. Daher fordern einige von uns, dass Hochschulen ein wachstumsunabhängiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einfordern, mitgestalten und sich darauf ausrichten.

Manche von uns betonen die kulturell-historische Entwicklung (mit ihren westlichen, weißen und kolonialen Traditionen) als Ursprünge für heutige systemische Fehler. Insbesondere betonen sie die enge Verknüpfung zwischen der Klimakrise und dem jahrhundertelangen Hegemonialanspruch des westlichen, weißen Wissenschafts- und Wirtschaftssystems mit Kontinuität bis in die Gegenwart. Während die Länder des globalen Südens nur zu einem Bruchteil für die Entstehung der Klimakrise verantwortlich sind, tragen sie schon jetzt die schwerwiegendsten Folgen mit der zunehmenden Unbewohnbarkeit von Regionen und dem Verlust der Lebensgrundlagen von Millionen Menschen.

Manche von uns fordern anzuerkennen, dass die Industrialisierung in den letzten 200 Jahren Technologie und die Vorstellung, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen allein durch technologische Innovationen bewältigen lassen, eine dominante Stellung in der Gesellschaft verschafft hat. Manche von uns fordern daher ein, dass wir uns für eine kritische Reflexion und Transformation der daraus entstandenen Strukturen einsetzen.

Manche von uns stellen die Gefahr heraus, dass auch vielen Wissenschaftler:innen, inklusive der Autor:innen, die Bedrohlichkeit der Lage im Alltag immer wieder aus dem Blick zu geraten droht. Deshalb ist es für manche von uns die besondere individuelle Verantwortung (mehrfach) privilegierter Wissenschaftler:innen im privaten Bereich als Akteur:innen der Zivilgesellschaft, im privaten Konsumverhalten ebenso wie in Forschung und Lehre alle ihnen verfügbaren Mittel einzusetzen, um Politik und Zivilgesellschaft immer wieder an den Handlungsdruck zu erinnern, sie zu radikaler Mitigation zu bewegen und dabei selbst eine Vorbildrolle wahrzunehmen.

Manche von uns fordern anzuerkennen, dass die Klimakrise nicht isoliert von Gerechtigkeitsaspekten wie Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und anderen intersektional verknüpften Dimensionen betrachtet und bewältigt werden kann, und plädieren daher für eine systematische Auseinandersetzung mit diesem Aspekt.


  1. Nachhaltige Entwicklung ist ein Prozess. In diesem Sinne haben wir „Hochschultransformation Jetzt!“ und das Addendum entwickelt. „Hochschultransformation Jetzt!“ drückt einen Konsens aus, das Addendum ist eine Momentaufnahme einzelner im Juni 2023 laufender Diskussionsprozesse.